Rückblick auf die Herbsttagung der Gesellschaft für Geschichte des Weines in Nierstein vom 13. bis 15. Oktober 2023

Nachhaltige Themen zur Weingeschichte, Erinnerungskultur und Zukunftsvorsorge erwarteten die Teilnehmer bei unserer Herbsttagung in Nierstein. Lesen Sie hier den Tagungsbericht!

Rückblick Herbsttagung 2023

Nachfolgend finden Sie mehrere Beiträge, die Ihnen einen Eindruck von unserer Herbsttagung in Nierstein verschaffen sollen. Doch zunächst möchte ich allen danken, die bei der Programmgestaltung mitgewirkt und zusätzlich Aufgaben, die ich hier nicht alle aufzählen kann, übernommen haben: dazu zählen in erster Linie Otto Schätzel sowie Gerhard Becker, Bernd Kern, Simeon Guthier und Dr. Andreas Otto Wagner. Hervorzuheben sind die Akteure Otto Schätzel und Ruth Lehnart. Unser Beiratsmitglied Schätzel hatte die Türen nicht nur zur Tagungsstätte, sondern auch zu den besuchten Weingütern geöffnet und selbst den Rundgang am Sonntagvormittag gestaltet. Ruth Lehnart hatte sich bereits im Vorfeld der Tagung als auch vor Ort als stressfeste Organisatorin bewährt, die immer mit einem Lächeln kleine und große Herausforderungen, die mit einer Tagungsorganisation verbunden sind, löste. In diesem Zusammenhang möchte ich auch einen Dank an Marga und Eduard Merkle richten, die uns als erfahrene Netzwerker sowohl im Vorfeld als auch beim Gästeempfang in Nierstein unterstützten. Und schließlich auch ein Dank an Dr. Adolf Suchy, der sich wieder engagiert als „Hoffotograf“ in den Dienst der Gesellschaft stellte.

Die Wahl des Best Western Wein- und Parkhotels in Nierstein als Tagungsort bewährte sich, nicht nur wegen des gesamten Ambientes, sondern auch wegen der guten Übernachtungsmöglichkeiten, der Leistungen der Küche vom Frühstück bis zum Abendbuffet, der Hilfsbereitschaft des Personals, beginnend vom Hoteldirektor bis zu den Servicekräften. Schließlich wird der Erfolg einer Tagung nicht nur vom Vortragsprogramm, sondern auch von den Rahmenbedingungen und vom Besuchsprogramm beeinflusst. So zeigte der kurzweilige Besuch im Weingut St. Antony am späten Freitagnachmittag nach dem ersten Tagungsteil „Wein in der NS-Zeit“ gelebte und „schmeckbare“ Weinbaugeschichte. Das 1920 von der „Gute Hoffnungshütte“ in Nierstein gegründete Weingut wird heute von Dirk Würtz als geschäftsführendem Gesellschafter geleitet, der auch die Tagungsteilnehmer begrüßte und in die Geschichte des Weingutes einführte.Daniel Deckers, der ein Buch über die wechselhafte Geschichte des Weingutes veröffentlicht hat, ergänzte die Ausführungen unter besonderer Berücksichtigung des Tagungsthemas. Dirk Würtz und seinem Team sei an dieser Stelle für die Probe herzlich gedankt. Das anschließende schmackhafte Abendessen im Tagungshotel, begleitet mit Erzeugnissen des Weinguts Gerhard, die vom Hoteldirektor Michael Peetz sachkundig vorgestellt wurden, bot Gelegenheit für Gespräche unter den Tagungsteilnehmern. 

Am Samstag standen die Themen „Wein und Klima“ und „Weinkulturgeschichte und Kommunikation“ auf dem Programm (siehe unten). Der Tagungssaal mit seinen 100 Plätzen war wie am Vortag stets gut besetzt. Gewollt war, dass sich Tagungsteilnehmer nicht nur zur Gesamttagung, sondern auch zu einzelnen Tagungsblöcken anmelden konnten. Davon wurde rege Gebrauch gemacht, so dass wir 60 bis 70 ständige Teilnehmer und etwa 20 wechselnde Teilnehmer hatten. Nach dem informativen und spannenden Vortragsprogramm freuten sich alle auf die Abendveranstaltung im Weingut Raddeck, mit wunderbarer Aussicht über Nierstein gelegen, und mit einzigartigen Weineventmöglichkeiten ausgestattet. Bernd Kern, Geschäftsführer Rheinhessen Wein e.V., hatte mit Stefan Raddeck nicht nur eine hervorragende Auswahl an rheinhes­sischen Weinen getroffen, sondern auch fachkundig, informativ und launig durch das kulinarische Programm des Abends geleitet. Die Familie Raddeck war ein hervorragender Gastgeber. Und alle, die dabei waren, dürften mir zustimmen: das Essen von „SL mehr buffet“ war klasse! Wer immer für die Organisation des Tagungswetters zuständig war, auch er/sie hat seine Sache prima erledigt!

Sie werden im Folgenden drei Beiträge zu diesen Tagungsblöcken lesen können. Ich möchte den Autoren Dr. Jochen Hamatschek, Dr. Jürgen Sigler und Felix Maskow sehr herzlich danken, dass sie je einen Tagungsblock besonders aufmerksam verfolgt und ihre Eindrücke zu Papier gebracht haben. Im nächsten Jahr werden wir dann die Vorträge und Diskussionsergebnisse in unserer Schriftenreihe publizieren. 

Unsere diesjährige Herbsttagung war als Veranstaltung der kurzen Wege angekündigt worden. Der Fokus lag auf dem Vortragsprogramm, zur Abrundung wurden Weingüter und Weinwanderwege in Nierstein besucht oder erkundet. Bei der Frühjahrstagung am Mittelrhein (19. bis 21. April 2024) werden die Schwerpunkte anders gesetzt: es wird neben der Mitgliederversammlung nur ein halbtägiges Vortragsprogramm geben, die übrige Zeit ist einem Besuchsprogramm im Weinbaugebiet Unterer und Oberer Mittelrhein gewidmet. Romantik, einzigartige Weine und Weltkulturerbe lassen grüßen, aber die Weinbaubetriebe stehen vor großen Herausforderungen, über die wir sprechen werden!

Rudolf Nickenig, Remagen

 

Teil 1 der Tagung: „Wein in der NS-Zeit“

Alles ist politisch – auch Wein. Nicht der Wein selber, aber die Weinwirtschaft, die Macher und Funktionäre. Sie bewegen sich im politischen Raum. In besonders brisanter Zeit wird deren Wirken in den Augen der Nachwelt nicht selten kritisch gesehen. Grund genug für die GGW, sich auf der Herbsttagung in Nierstein mit dem Verhalten der Weinszene im Dritten Reich zu beschäftigen und die Auswirkungen und Nachwirkungen in personeller und fachlicher Sicht herauszuarbeiten. Nicht zuletzt unter der in den letzten Jahren veränderten Erinnerungskultur und neuerer Forschungsergebnisse. Einleitend wies der Präsident der Gesellschaft für Geschichte des Weines, Prof. Dr. Andreas Otto Weber, darauf hin, dass es ihm persönlich und dem Vorstand ein großes Anliegen sei, diese Thematik mit großem Ernst zu behandeln und dabei auch eigene Veröffentlichungen kritisch zu überprüfen (Beispiel Biographien von Persönlichkeiten, die in der NS-Zeit in verantwortlichen Positionen waren). Er dankte Frau Dr. Pia Nordblom für die Zusammen­arbeit mit der Universität Mainz sowie Herrn Bernhard Kukatzki von der Landeszentrale für politische Bildung bei der Vorbereitung und Bekanntmachung der Tagung. Anschließend übergab er an Dr. Rudolf Nickenig, der durch das Programm führte und die Referenten sowie deren Vortragsthemen vorstellte.

Dr. Pia Nordblom von der Johannes Gutenberg-Universität, Mainz, nahm in einem Übersichtsreferat eine Bestandsaufnahme vor. War Wein in der Hierarchie der Berliner Politik unten angesiedelt, hatten lokale Gaufürsten, z.B. Bürckel in Neustadt, das Potenzial zur eigenen Profilierung erkannt und waren entsprechend populistisch vorgegangen. So wurde 1935 die Deutsche Weinstraße als touristische Maßnahme feierlich ins Leben gerufen. Im Dritten Reich fand auch die erste Wahl einer Deutschen Weinkönigin statt. Jedem Deutschen sollte sein Glas Wein möglich sein und das Getränk aus der Sphäre des Luxus befreit werden. Aber nur Wein von Volksgenossen für Volksgenossen; nichtarische Händler, Kommissionäre oder Weinbaubetriebe wurden entsprechend ausgeschaltet. Patenschaften von Weinbaugemeinden halfen, Wein ins Land zu tragen und bei entsprechenden Weinfesten auszuschenken. Der Weinkonsum stieg aufgrund diverser Maßnahmen in den Jahren 1935 und 1936 von deutlich unter fünf auf deutlich über sechs Liter je Kopf und Jahr. 

Inhaltlich mit dem Thema verbunden betrachtete Dr. Sina Fabian von der Humboldt-Universität Berlin die NS-Alkoholpolitik insgesamt. Sie ging schwerpunktmäßig auf die Sonderrolle des Weins ein, der in der Aufmerksamkeitshierarchie dank aktiver Lokalfürsten nach oben gerutscht war. Wein schaffte es zum Volksgetränk. Alkohol galt aber als Gift im Körper, Alkoholismus gemäß der NS-Rassenlehre als vererbbar. Alkoholiker würden dem Volkskörper schaden und wurden verfolgt. Um die Volksgesundheit zu erhalten, also „erbreine“ Volksgenossen, wurde entsprechend Aufklärung betrieben und Mäßigung propagiert.

Dr. Christine Krämer, stellvertretende Vorsitzende der GGW, betrachtete am Beispiel jüdischer Weinhändler in Stuttgart die Auswirkungen des Nationalsozialismus auf den Weinhandel. Seit 1864 waren Juden im Königreich Württemberg gleichberechtigte Bürger. Im Jahr 1910 existierten 11 große jüdische Weinhändler in Stuttgart, insgesamt tummelten sich 90 Händler in dem hartumkämpften Markt. Nach 1933 existierten noch drei jüdische Betriebe. Der letzte musste 1939 aufgeben, fast 100 Jahre nachdem sich der erste jüdische Weinhändler in Stuttgart niedergelassen hatte. Die Besitzer endeten vielfach im KZ, ihr Besitz wurde mehr oder weniger anständig von „Ariern“ aufgekauft. Hauptprofiteure waren damals drei konkurrierende Weinhandlungen, die zum Teil noch heute am Markt sind.

Der Journalist Dr. Daniel Deckers (FAZ) erweiterte den Blick auf die Ausgrenzung, Verfolgung und schließlich die Vernichtung jüdischer Weinhändler und Kommissionäre in ganz Deutschland. Antisemitismus gab es in Deutschland seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, aber weniger ausgeprägt als in anderen Ländern. Nach Jahren großer Erfolge musste der Weinhandel bereits vor dem Dritten Reich mit Strukturproblemen kämpfen. Die Gastronomen als Hauptkunden besorgten sich inzwischen vielfach Weine direkt beim Winzer. Ab 1935 nahm der Druck auf jüdische Weinhändler massiv zu, nur einigen gelang es auszuwandern. Anhand konkreter Beispiele wie der Betriebe Sichel, Fromm oder Friedländer im Rheingau, an der Mosel und in Mainz schilderte er das Vorgehen der Nazis zur Ausschaltung missliebiger Juden. Einige Emigranten haben trotz der Erfahrungen nach 1933 bereits kurz nach dem Krieg wieder Kontakt mit deutschen Winzern aufgenommen und Handelsbetriebe aufgebaut. Wie in anderen Fällen auch konnten viele Nazi-Hetzer in der Nachkriegszeit hohe Positionen innerhalb der Weinwirtschaft besetzen. Hier sieht der Referent auch für die GGW einen Nachholbedarf beim Blick auf die eine oder andere Persönlichkeit der Weinwirtschaft. 

Abgeschlossen wurde der Block Wein in der NS-Zeit mit einer Podiumsdiskussion zwischen Prof. Weber als Moderator und den Teilnehmern Prof. Matheus, Dr. Deckers und Dr. Wagner. In der Runde wurden einige inhaltliche Ergänzungen zu den Aussagen der Vorredner vorgenommen, insbesondere nochmals auf die Lücken in den Biographien von Weinaktivisten hingewiesen.

Jochen Hamatschek, Landau

 

Teil 2 der Tagung: „Wein und Klima – historische Erfahrungen und Folgerungen für die Zukunft“

Einleitend wies der Präsident der Gesellschaft für Geschichte des Weines, Prof. Dr. Andreas Otto Weber, darauf hin, dass „Klima“ bereits Gegenstand der Tagung 2019 in Meersburg gewesen sei und es sich hier in Nierstein insoweit um eine Fortsetzung der Beschäftigung mit dieser Thematik handele. Dr. Rudolf Nickenig führte durch das Programm und stellte die Referenten und deren Vortragsthemen vor.

Prof. em. Dr. phil. hist. Christian Pfister, Oeschger Zentrum für Klima­forschung der Universität Bern: „Wein und Klima. Einblicke in die Geschichte der vergangenen 600 Jahre“. In einem hernach als „fulminant“ bezeichneten Vortrag verwies der inzwischen 79-jährige Referent, einer der herausragenden Pioniere der historischen Klimaforschung, auf seine vor über 40 Jahren begonnenen und bis heute andauernden Untersuchungen zur Klimatologie der Vergangenheit. 

Neben indirekten Daten aus den „Archiven der Natur“, wie beispielsweise Tropfsteine, Eisbohrkerne, See-Sedimente und Baumringe vor allem für die früheren Jahrtausende und Jahrmillionen, bediente er sich dabei vor allem der „Archive der Gesellschaft“, wie Aufzeichnungen und Chroniken der letzten ca. 1.000 Jahre. Für die Temperaturentwicklung des vergangenen Jahrtausends etwa kann zum einen konstatiert werden, dass die Winter durchwegs kälter waren als im 20. Jahrhundert – mit einem Maximum im 19. Jahrhundert –, die Sommer hingegen ein Temperaturmaximum im 13. Jahrhundert gehabt haben, verbunden mit dem Einzug subtropischer Kulturpflanzen wie Feigen- und Olivenbäumen.

Für Rückschlüsse auf die vorherrschenden Großwetterlagen in den Sommerhalbjahren der vergangenen Jahrhunderte haben sich Lesedaten, Weinerträge und Weinqualitäten als besonders geeignet herausgestellt. Eine aussagekräftige Quelle für den Beginn der Weinlese stellt der dokumentierte „Weinlesebann“ dar, also die Schließung der Weinberge im Vorfeld der Lese, ferner die oftmals penibel geführte Buchhaltung der Weingüter. Auch die Quantität der Ernten ist ein bedeutender Faktor, ersichtlich oftmals aus fiskalischen Aufzeichnungen einer lokal oder regional erhobenen Weinsteuer. So fand man beispielsweise heraus, dass die 1470er Jahre als wärmstes Jahrzehnt der so genannten „Kleinen Eiszeit“ gelten können – und das Jahr 1473 gar als der trocken-heißeste Sommer des Jahrtausends.

Und nicht zuletzt ist natürlich die Qualität des Leseguts, sein Zucker- oder auch Säuregehalt, ein sehr wichtiger Parameter für Rückschlüsse auf die jeweilige Jahreswitterung. Schon vor der Einführung von Oechsle- und anderen Skalen bediente man sich beispielweise einer grob beschreibenden Abstufung, vom „Spitzenwein“ bis zum Verdikt „untrinkbares Gesöff“. Der Referent präsentierte hierzu Daten von 1420 bis 2019: Demnach gab es in den letzten 600 Jahren naturgemäß starke Schwankungen, erkennen lassen sich jedoch die 5 % sauersten Jahrgänge „ohne Sonne“ ebenso wie die 5 % Spitzenjahre. Sehr auffällig ist aber, dass seit etwa 1990 nur noch gute bis sehr gute Qualitäten zu verzeichnen waren – ein klares Indiz für die rasch fortschreitende Klimaerwärmung. Zu diesem Klimawandel der jüngsten Zeit gibt der Referent zu bedenken, dass sowohl der Primärenergieverbrauch seit etwa 1950, wie auch der CO2-Gehalt der Atmosphäre seit etwa 1958, in starkem Anstieg begriffen sind, jedoch hinke der resultierende Temperaturanstieg um rund 30 Jahre hinterher. Selbst bei einem sofortigen Umsteuern werde also die Erwärmung noch einige Jahrzehnte andauern, was ihm große Sorge für die nachfolgenden Generationen bereite.

Dr. Thomas Roggenkamp, Geo­graphisches Institut der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität, Bonn: „Flutkatastrophen an der Ahr – Forschungsergebnisse der Paläohydrologie und Geomorphologie

Mit einem mittleren Abfluss von 7 m³/s (7 Kubikmeter pro Sekunde) ist die Ahr normalerweise ein eher beschauliches Flüsschen. Der mit 236 m³/s bis vor kurzem höchste gemessene Pegelwert datiert aus dem Jahr 2016 und markierte bis dahin ein etwa hundertjähriges Hochwasserereignis. Bei dem verheerenden Hochwasser 2021 jedoch wurde der Pegel Altenahr bei etwa 600 m³/s zerstört; Nachberechnungen haben ergeben, dass der tatsächliche Scheitelabfluss bei 1.100 bis 1.200 m³/s gelegen haben muss.

Aus historischen Daten – Pegelmessungen finden an der Ahr erst seit etwa 1940 statt – wie Hochwassermarken, Zeitzeugenberichten usw. lassen sich etliche Hochwasserereignisse der letzten Jahrhunderte rekonstruieren. So gab es an der Ahr schon in den Sommern 1590, 1601 und 1677 gut belegte Überschwemmungen mit teils großen Schäden. Als herausragend darf das Hochwasser im Juli 1804 gelten: Mit massiven Zerstörungen, 65 Todesopfern und einem rekonstruierten Scheitelabfluss von etwa 1.200 m³/s kann dieses Hochwasser als der Zwilling von 2021 gelten. Bei einem weiteren Hochwasser im Juni 1910 waren 52 Todesopfer zu beklagen, der rekonstruierte Scheitelabfluss lag jedoch mit 550 m³/s deutlich niedriger.

Der Referent beklagte, dass die Statistik bis dato auf zu kurzen Messreihen und zudem nur vereinzelten Ereignissen basiere, es sei aber nötig, auch historische Überschwemmungen stärker in den Blick zu nehmen. In der subjektiven Wahrnehmung derselben konstatierte er eine gewisse „Hochwasser-Demenz“ – frühere Ereignisse seien einfach aus dem Gedächtnis verschwunden. Für den gelegentlich vermuteten negativen Einfluss des Weinbaus auf das Hochwasser im Ahrtal gebe es keine Anhaltspunkte. Vielmehr ist insbesondere die Talsohle heute viel stärker bebaut als früher, was bei Überschwemmungen hindernisbedingt höhere Wasserstände bedeute.

Prof. Dr. Rüdiger Glaser, Lehrstuhl für Physische Geographie der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg: „Klimawandel in Mitteleuropa – historische Erfahrungen und Folgerungen für die Zukunft

Die Klimageschichte der letzten 1.000 Jahre sei in den ersten Jahrhunderten etwas lückenhaft, seit etwa 1500 dann aber gut dokumentiert. Bei zwar großer Variabilität mit mittelalterlichem Temperatur-Optimum, gefolgt von der so genannten „Kleinen Eiszeit“, falle vor allem der seit etwa 1950 durch anthro­pogene Treibhausgase immer steiler werdende Temperaturanstieg ins Auge. 

Global gesehen ist die Welt von 1901 bis 2012 um 1 bis 1,2 Grad wärmer geworden – mit starken regionalen Schwankungen. Im Mitteleuropa zeigen die ab 1761 aufgezeichneten Temperaturkurven seit etwa 1850 einen Trend nach oben und seit etwa 1980 eine exponentielle Zunahme. Während die Summe der Jahres-Niederschläge in etwa gleichgeblieben ist, müsse man eine deutliche Verschiebung hin zu mehr Winter-Niederschlägen feststellen. Sommer- und Hitzetage nehmen zu, ebenso Tropennächte, was gesundheitliche Auswirkungen bis hin zu hitzebedingter Übersterblichkeit habe. Auf der anderen Seite nehmen winterliche Frost- und Eistage ab, die Vegetationsperiode verlängert sich.

Historisch herausragend waren die Jahre 1624 (gutes Weinjahr mit früher Lese), 1811 (extremes Hitze- und Dürrejahr) sowie 1865 (Trockenjahr). Aus neuerer Zeit noch erinnerlich sind die Jahre 2003 (Hitze- und Dürrejahr) und 2018 (extremes Hitze- und Dürrejahr).

Bezogen auf den Weinbau können u.a. folgende Zusammenhänge als statistisch gesichert gelten:

je kühler Mai bis September, umso später der Lesebeginn,

je feuchter Frühjahr und Sommer, umso später der Lesebeginn,

je trockener Mai bis Juli, umso geringer die Erntemenge,

je wärmer Juli bis September, umso höher die Weinpreise,

je trockener Mai bis Juli, umso höher die Weinpreise.

An aktuellen Folgen des Klimawandels sind zum einen augenfällig das Abschmelzen der Gletscher, Dürrerisse auf den Feldern sowie Starkregen mit Überschwemmungsgefahr. Ferner verschieben sich die Jahreszeiten (allein der Winter ist um 15 Tage geschrumpft) und die Vegetationsperioden, was weitere Verschiebungen bei Arten und Sorten in Land- und Forstwirtschaft bedeutet. Während die neuen, kühleren Weinbauregionen eher auf der Gewinnerseite stehen, sind die klassischen eher auf der Verliererseite, wobei mit Agri-Photovoltaik usw. auch dort gewisse Vorteile bestünden.

In der anschließenden Podiumsdiskussion der 3 Referenten mit Prof. Dr. Hans Reiner Schultz, Präsident der Hochschule Geisenheim University, und Uwe Fetz, Weinbaupräsident Mittelrhein, wurde vorrangig die Frage beleuchtet, wie man etwas ändern könne. Einerseits dächten die Menschen eher kurzfristig und im Zweifel bequem, andererseits würden Hitze, Dürre und Starkregen als stärkste Bedrohung wahrgenommen. Statt retrospektivem Rückblick brauche es eine in die Zukunft gerichtete Diskussion. Szenarien seien genug vorhanden, vonnöten seien jetzt Lösungen und Entscheidungshilfen für Praktiker. Die Problematik Klimawandel müsse entschlossener angegangen werden, jede und jeder könne etwas tun. 

Jürgen Sigler, Freiburg

Teil 3 der Tagung: „Weingeschichte und Weinkultur – Erinnerungen wecken, Kommunikation verbessern“

Der dritte, am 14. Oktober 2023 stattgefundene Teil der diesjährigen Herbsttagung der Gesellschaft für Geschichte des Weines e.V. im rheinhessischen Nierstein zum Thema „Weingeschichte, Erinnerungskultur und Zukunftsvorsorge“ (13. bis 15. Oktober 2023) widmete sich ganz dem Schwerpunkt „Weingeschichte und Weinkultur – Erinnerungen wecken, Kommunikation verbessern“. Prof. Dr. Andreas Otto Weber betonte, mit dieser Session wolle die Gesellschaft sich mit der Frage beschäftigen, wie es in Zukunft verstärkt gelingen kann, das Thema Weinkultur und Weingeschichte einem breiteren Publikum besser zu kommunizieren, insbesondere unter Miteinbeziehung von Weinbotschaftern und -werbenden. Dr. Rudolf Nickenig stellte wieder die Referenten und ihre Themen vor.

Einen geschichtsdidaktisch-theore­tischen, indes an weingeschichtlichen Beispielen verdeutlichten Überblick zum Thema „Geschichtskultur und Erinnerung – Vom Umgang mit Geschichte in der Gesellschaft“ gab zunächst Prof. Dr. Meike Hensel-Grobe vom Lehrstuhl für Geschichtsdidaktik am Historischen Seminar der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, indem ein Blick auf jene Sinnbildungsprozesse zwischen Vergangenheitsdeutung, Gegenwartserfahrung und Zukunftserwartung geworfen wurde, die dem individuell konstruierten Geschichtsbewusstsein sowie der kollektiven, sich etwa in Denkmälern oder historischen Erzählungen manifestierenden Geschichtskultur als soziales System zugrunde liegen.

Im Anschluss daran leitete Simeon Guthier, M. A., vom Institut für Geschichtliche Landeskunde an der Universität Mainz e.V. (IGL) mit seinem Vortrag zur Frage „Wie lässt sich das große öffentliche Interesse an der Geschichte des Weines erreichen?“ die Beschäftigung mit der praktischen Umsetzung einer verbesserten Weingeschichtskommunikation ein. Er präsentierte sein Resümee zweier vom IGL umgesetzten Projekte, dem 2021 als Webseite und interaktive Ausstellung im Deutschen Weinbaumuseum Oppenheim veröffentlichten „Atlas der Weinkultur in Rheinland-Pfalz“ (hier werden verschiedene Themen der rheinland-pfälzischen Weingeschichte an bestimmten Erinnerungsorten festgemacht) sowie der 2022 als Webseite sowie Einsteigerhandbuch realisierten „Weingeschichte in Rheinhessen“. Er hob insbesondere die elementar gewordene Bedeutung von digitalen Angeboten hervor, die zur niedrigschwelligen, barrierefreien und flexibel korrigierbaren Vermittlung weinhistorischer und -kultureller Themen an eine breitere Öffentlichkeit unter Einbindung lokaler Akteurinnen und Akteure sinnvoll sind.

Dr. Herrad Krenkel, Vorsitzende der Kultur- und Weinbotschafter Rheinhessen e. V., berichtete daran anknüpfend über die „Rolle der Kultur- und Weinbotschafter Rheinhessen in der weinkulturellen und -historischen Wissensvermittlung“ als Brücke zwischen Wissenschaft und Konsumenten. Ihr 2007 gegründeter Verein hat sich der Vermittlung von rheinhessischer Identität, Tradition, Lebensart und Weinkultur verschrieben und bietet Interessierten etwa die Möglichkeit, im Rahmen einer einjährigen Schulung zum „Kultur- und Weinbotschafter“ ausgebildet zu werden, um als solcher im Rahmen von Führungen, Veranstaltungsreihen sowie Projekten für Einheimische und Touristen Weinkultur vor Ort erlebbar zu vermitteln.

Der Frage, wer sich in der deutschen Weinbranche für die Vermittlung von Weinkultur und -geschichte verantwortlich fühlt und diese finanziert, widmete sich Monika Reule, Geschäftsführerin des Deutschen Weininstituts (DWI), in ihrem Vortrag „Kommunikation von Weinkultur und Weingeschichte – eine Aufgabe für die Gemeinschaftswerbung?“ So wirbt das DWI mit generischer Gemeinschaftswerbung auf nationaler und internationaler Ebene, repräsentativ für alle deutschen Weinbauregionen. Angesichts einer zunehmenden gesellschaftlichen Dis­kussion über Alkoholkonsum soll dabei künftig vor allem die Betonung von Weinkultur im Sinne eines maßvollen Weingenusses und identitätsprägenden Kulturgutes stehen. Als Erfolg wertete sie, dass auf Antrag der Deutschen Weinakademie (DWA) die „Weinkultur in Deutschland“ im Jahre 2021 in das Bundesweite Verzeichnis des Immateriellen Kulturerbes aufgenommen wurde. Als weitere weinkulturelle Aktivitäten des DWI nannte sie unter anderem die App „Deutsche Weine“ mit integrierter Erzeuger- und Veranstaltungsdatenbank, die Auszeichnung von Vinotheken und von „Höhepunkten der Weinkultur“ sowie nicht zuletzt die Wahl der Deutschen Weinkönigin. Dagegen werde der Deutsche Weinkulturpreis unter anderem „mangels geeigneter Kandidat*innen“ nicht mehr verliehen.

Den Abschluss des Vortragsteils bildete eine vom Brudermeister der Weinbruderschaft Rheinhessen, Prof. Dr.-Ing. Axel ­Poweleit, moderierte Podiumsdiskussion: Prof. Dr. Meike Hensel-Grobe, Monika Reule sowie Michael C. J. Landgraf, Generalsekretär des PEN-Clubs Deutschland und Brudermeister der Weinbruderschaft Pfalz, vertieften im gemeinsamen Gespräch und anschließend auch im Plenum die Möglichkeiten einer verstärkten weingeschichtlichen und -kulturellen Kommunikation, um Produzenten und Konsumenten von Weinkultur stärker in einen Austausch miteinander treten zu lassen. Leitgedanken waren dabei insbesondere die Gewinnung jüngerer Menschen für das Thema Weinkultur und -geschichte sowie der vermehrte Einsatz digitaler und interaktiver Medien, aber auch Weinkulturkommunikation im Spannungsfeld von kommerzieller Absatzsteigerung einer- und Kulturgutbewahrung bzw. Genussvermittlung andererseits. Der Diskussionsleiter band auch das Plenum in die Diskussion ein, das sehr engagiert davon Gebrauch machte, sodass die Podiumsdiskutanten fast zu kurz kamen.

Felix Paul Maskow, Mainz

 

Sämtliche Fotos: Dr. Adolf Suchy

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