Wein in der NS-Zeit (Schrift Nr. 208)
Der anzuzeigende 208. Band der seit 1959 von der Gesellschaft für Geschichte des Weines (GGW) herausgegebenen Reihe „Schriften zur Weingeschichte“ versammelt den zweiten Teil der Beiträge der Herbsttagung der GGW 2023 in Nierstein (Rheinhessen). Während im ersten Teil des Symposiums aktuelle und historische Erfahrungen der Wein- und Klimageschichte, die bereits in einer eigenständigen Aufsatzsammlung mit dem Titel „Wein und Klima“ ebenfalls 2024 als „Schriften zur Weingeschichte 207“ erschienen sind, im Zentrum der Aufmerksamkeit standen, wird nun dem spannenden Thema „Wein in der NS-Zeit“ in sechs Beiträgen nachgespürt.
Einführend ist dem Sammelband der Aufsatz der Zeithistorikerin Pia Nordblohm (Universität Mainz) mit dem Titel „Wein und Nationalsozialismus – eine belastete Beziehung, Bestandsaufnahme und Perspektive“ (S. 9 – 24) vorangestellt, der sich in zwei Teile untergliedern lässt. Während in einem ersten überblicksartigen Abschnitt „ausgewählte politisch-ideologische Handlungsfelder der Verbindung von Wein und Nationalsozialismus“ in vornehmlich linksrheinischen Gebieten vorgestellt werden, geht die Verfasserin im zweiten Part der Frage nach, „wie Geschichtswissenschaft und öffentliche Erinnerungskultur dem Verhältnis von Wein und NS-Zeit entgegengetreten sind“ (S. 10). Sie kann herausarbeiten, dass trotz aller historischer Forschungen zur NS-Zeit die Auseinandersetzung mit dem Weingewerbe und der Weinkultur lediglich ein Nischenthema geblieben ist. Für weitere Forschungen auf diesem Feld regt sie an, den Blick künftig über das Jahr 1945 hinaus zu richten, um Brüche oder Kontinuitäten besser erkennen, bewerten und einordnen zu können.
Im zweiten Beitrag widmet sich Sina Fabian (HU Berlin) dem großen, ebenso ambivalenten wie widersprüchlichen Thema „Nationalsozialistische Außenpolitik und die Sonderrolle des Weins“ (S. 25 – 44). Während zwischen 1933 und 35 die gesetzliche Basis für die Verfolgung von Alkoholabhängigen geschaffen wurde, wurde in den Folgejahren der Wein von der NS-Propagandamaschinerie zum Volksgetränk hochstilisiert, ehe ab 1937, verbunden mit den Kriegsvorbereitungen, hoher Weinkonsum plötzlich nicht mehr opportun erschien. Die Widersprüche hier liegen offen auf der Hand. Adolf Hitler war zudem ein überzeugter Alkoholgegner und der jährliche Weinverbrauch lag in der ersten Hälfte der 1930er Jahre lediglich bei 4,5 Litern pro Kopf. Bier war im Reich bei den alkoholischen Getränken um ein Vielfaches beliebter als Wein. Dennoch wurde dieser ab 1935 zum Volksgetränk ausgerufen. Im Herbst des Jahres fand eine Woche lang das erste reichsweite „Fest der deutschen Traube und des Weines“ zeitgleich in mehr als 200 Städten statt. Es wurden zudem Weinpatenschaften deutscher Städte für Weinbauorte ins Leben gerufen. Die Anzahl der Patenstädte sollte sich insgesamt auf über 900 belaufen. Festumzüge entwickelten eine große propagandistische Wirkung. Aber schon 1937 wollte man vom Wein als Volksgetränk nichts mehr wissen und es wurde eine nationalsozialistische Alkoholpräventionskampagne ins Leben gerufen, die jedoch nur bis zum Kriegsbeginn 1939 andauern sollte. Während die Weinfeste nach Ende des Zweiten Weltkriegs zunächst deutlich an Einfluss und Bedeutung verloren, überdauerten gewisse Werbe- und Propagandaaktionen die Zeiten nahezu unbeschadet und wurden teilweise bislang auch noch keiner kritischen Überprüfung unterzogen, wie zum Beispiel die 1935 gegründete „Deutsche Weinstraße“ mit dem „Deutschen Weintor“.
In den drei folgenden Aufsätzen steht nun der jüdische Weinhandel bzw. das Schicksal jüdischer Weinhändler und Weinhandelsfamilien im Mittelpunkt. Während der Schwerpunkt bei den beiden Beiträgen von Christine Krämer (Historikerin) „Jüdische Weinhändler in Stuttgart und die Auswirkungen des Nationalsozialismus auf den Weinhandel in Württemberg“ (S. 45 – 82) und Ulf Rathje (Archivar) „‚Aus Verfolgungsgründen ausgewandert.‘ Die jüdische Weingroßhandlung A. Zürndorfer in Stuttgart“ (S. 83 – 109) eher auf regionaler und lokaler Ebene liegt und beiden Untersuchungen jeweils eine breite, in großen Teilen bislang ungedruckte archivalische Überlieferung aus diversen Stuttgarter Archiven und dem Staatsarchiv Ludwigsburg zugrunde gelegt ist, wobei hier die eher alibi- oder allenfalls symbolhaften Entschädigungen aus den 1950er Jahren auffallen (S. 94 – 103), präsentiert Daniel Deckers (FAZ, Hochschule Geisenheim) die zentralen Ergebnisse seines Vortrags in Form eines Gesprächs mit Rudolf Nickenig mit dem Titel „Verjudet? Ausgrenzung, Verfolgung und Vernichtung jüdischer Weinhändler und Kommissionäre und ihre Folgen für den deutschen Wein“ (S. 111 – 132). Dabei wird augenfällig, dass trotz aller Studien zum jüdischen Leben in Deutschland und der umfangreichen Holocaustforschung „der jüdische Weinhandel ein Feld“ sei, das „bisher überhaupt nicht ausgeleuchtet wurde“ (S. 112). Dafür mag sicher die Quellensituation zur Thematik eine Rolle spielen. Firmenchroniken jüdischer Weinhändler fehlen beispielsweise allzu oft, Familienchroniken von jüdischen Wein(groß)händlerfamilien sind verloren oder wurden während des Nationalsozialismus zerstört. Besonders deutlich wird bei dem Gespräch auch die Notwendigkeit, den Untersuchungszeitraum nicht nur auf die Zeit zwischen 1933 und 45 zu beschränken, sondern einerseits deutlich früher schon in der sog. „Kampfzeit“ der NSDAP oder davor anzusetzen, andererseits bis über 1945 hinaus in die 1950er oder teilweise sogar 60er Jahre hinein, um dem Thema mit all seiner Tragweite gerecht werden zu können. Dann könnten auch noch einige wichtige Erkenntnisse zu Größen der deutschen Weinbranche gewonnen und diverse Brüche oder Kontinuitäten nachgewiesen werden. Denn während zu den Themenfeldern Politik, Wirtschaft und Justiz schon einschlägige Studien zur Entnazifizierung vorgelegt wurden, steht eine umfassende Untersuchung für die Weineliten im Dritten Reich und der jungen Bundesrepublik Deutschland noch aus.
Den Abschluss bildet die Untersuchung „Weinwirtschaftliche Rahmendaten der NS-Weinbaupolitik“ (S. 133 – 166) von Rudolf Nickenig (Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats der Gesellschaft für Geschichte des Weines e. V.). Der Verfasser hat hier in Kärrnerarbeit ein Datenkonvolut zur Geschichte des deutschen Weinmarktes in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bestehend aus Veröffentlichungen des Statistischen Reichsamtes, des Statistischen Bundesamtes sowie einschlägige Passagen aus Fachzeitschriften und Forschungsliteratur zusammengetragen. Auf dieser Grundlage lassen sich beispielsweise die Rebflächen der Ostmark und des Reichsgaus Sudetenland genauer fassen oder beispielsweise die Verteilung der deutschen Weinanbauflächen Anfang des 20. Jahrhunderts. Während vor dem Ersten Weltkrieg die Rebfläche inklusive Elsass-Lothringen rund 120.000 ha betragen hatte, waren es nach dem Wegfall Elsass-Lothringens nur noch ca. 85.000 ha. Bis in die 1920er Jahre hinein wurden etwa 10.000 ha Weinberge aufgelassen und die Ertragsrebfläche betrug insgesamt nur noch etwa 70.000 – 75.000 ha. Bemerkenswert erscheint die Tatsache, dass die Berichterstattung über die Entwicklungen der deutschen Weinbranche mit Beginn der NS-Herrschaft deutlich eingeschränkt erfolgte. Ab 1939/40 wurden Daten über den Deutschen Weinmarkt lediglich für den internen Gebrauch vom Statistischen Reichsamt weitergegeben. Aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs liegen aktuell so gut wie keine Daten vor.
Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass der Sammelband zahlreiche fruchtbare Erkenntnisse zu dem überaus komplexen Thema „Wein in der NS-Zeit“ liefert und zu weiteren Fragestellungen auch über die Zeit von 1933 bis 45 hinaus anregt, verbirgt sich hinter dem Begriff „Wein“ doch viel mehr als nur „Rebensaft“, nämlich auch Personen als Akteure in der Weinbranche, in Beziehungsgefügen und Netzwerken, in Bezug zu Wirtschaft und Politik, ferner Institutionen, Praktiken, Anbau, Herstellung, Technik, Vertrieb, Werbung, Konsum und schließlich Kunden mit ihren Gewohnheiten. Als inhaltsreicher, gut lesbarer und anschaulich bebilderter „Auftaktband“ darf die vorliegende Aufsatzsammlung, der eine breite Leserschaft aus Fachwissenschaftlern und interessierten Laien zu wünschen ist, auch als Musterbeispiel für die künftigen Symposien der GGW zum Thema „Wein in der NS-Zeit“ und die Drucklegung dieser Beiträge gelten, bietet sie durch die sechs verschiedenen Studien sowohl umfassendes Grundlagenwissen zur Thematik, als auch regionale bzw. lokale Detailuntersuchungen und Einzelfallstudien speziell zum Schicksal der jüdischen Weinhändler im Dritten Reich – welche beispielsweise wiederum als Basis für einen Vergleich mit dem in Aussicht gestellten Folgeband „Judentum und jüdischer Weinhandel in Franken“ in den „Schriften zur Weingeschichte“ herangezogen werden können – sowie statistisches Grundlagenmaterial zur besseren Einordnung und Anregungen für weiterführende Fragestellungen zu einer noch lange nicht erschöpfend behandelten Thematik.
Markus Frankl, Würzburg, März 2025
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Gesellschaft für Geschichte des Weines e.V. (Hrsg.): Wein in der NS-Zeit. Mit Beiträgen von Deckers, D., Fabian, S., Krämer, C., Nickenig, R., Nordblom, P., Rathje, U. Wiesbaden 2024. 168 Seiten mit farbigen Abbildungen. ISSN 0302 0967. 19,50 Euro.

